Dienstag, 11. April 2017

Bei Maryla in Ratkovica: eine kroatische Zeitreise

Nachdem wir schon einen Teil Kroatiens durchquert hatten, kamen in ein kleines Dorf namens Ratkovica, das nur aus einer Straße bestand und suchten – genau wie uns beschrieben wurde – nach einem grünen Haus, das wohl das einzige in der Nachbarschaft sein sollte. Dort wohnt Marie-Louise Petrovic, unser Gastgeberin, die von den anderen Dorfbewohnern Maryla genannt wird. Als wir am Haus ankamen lernten wir gleich Lucia, eine Freundin von Maryla und ihre Enkelin Veronika kennen, die Maryla regelmäßig auf ihrem Hof helfen. Verständigen konnten wir uns jedoch nur über Gestik und Mimik, denn wir sprachen nicht dieselbe Sprache. Lucia und Veronika führten uns dann zu Maryla, die sowohl Französisch als auch Kroatisch spricht.

Ratkovica
Maryla ist Französin. Sie kommt aus der Nähe von Paris. Dort hatte sie in den 60er Jahren ihren späteren Mann kennengelernt, einen kroatischen Gastarbeiter aus Ratkovica. Bis zu ihrer Rente lebten die beiden in Frankreich und gründeten dort ihre Familie. Erst im Ruhestand zogen sie nach Ratkovica, wo sie begannen, die beiden von der kroatischen Familie geerbten Häuser zu renovieren. Eines dieser Häuser, ein Landhaus, das zum Bauernhof der Familie Marylas Mannes gehörte, wurde zum Wohnsitz der beiden. Da sie nun viel Zeit und Land hatten, entschieden sich die beiden, diesen wieder als Bauernhof zu nutzen. Seitdem halten sie hier Hühner, Gänse, Enten, Pfauen und Schafe. Vor einigen Jahren ist Marylas Mann gestorben. Trotz ihres Verlustes ist Maryla fest entschlossen, in Kroatien zu bleiben und sich, wie gehabt, um Land und Tiere zu kümmern. Unterstützt wird sie hierbei von einigen Dorfbewohnern und von freiwilligen Helfern, die wie wir über die Website workaway.info zu ihr finden. Das zweite Haus vermietet Maryla über booking.com, wodurch sie neben ihrer französischen Rente etwas Geld verdient und neue Menschen kennenlernt.

Unsere Gastgeberin Maryla
Wir halfen Maryla sowohl auf dem Bauernhof als auch bei der Vermietung ihres zweiten Hauses und haben dabei sehr viel gelernt. Wir wissen nun z.B., was man beachten muss, wenn man ein Gasthaus eröffnet, was Hühner, Enten, Gänse und Schafe essen, wie man Lämmer aufzieht und für eine gute Integration in der Herde sorgt, wie eine Brutmaschine funktioniert und dass jedes Tier genau wie jeder Menschen seinen ganz eigenen Charakter hat.

Doch Maryla brachte uns nicht nur bei, wie ihr Hof und die Vermietung ihres zweiten Hauses funktionieren, sondern erklärte uns auch viel über Ratkovica, das Leben der Dorfbewohner und die Geschichte Kroatiens. So lernten wir z.B., dass die Familie ihres Mannes während des Kriegs in den 90er Jahren Ratkovica verlassen mussten, da sie nicht katholisch, sondern orthodox und somit Serben waren und dass Lucias Familie eigentlich aus dem heutigen Bosnien und Herzegowina stammt. Ratkovica befindet sich nahe der Grenze zu Bosnien und Herzegowina. Daher sind die Kriegserfahrungen noch sehr präsent in den Köpfen der Leute. Wir hatten den Krieg nahezu bildlich vor Augen, da auch einige Nachbardörfer Ratkovicas noch sehr zerstört waren. Wir sahen eine Ruine nach der anderen und zwischendrin Schilder, die wohl auf der Landessprache erklärten, dass die Europäische Union hier nun Häuser wiederaufbaute. Durch all die Erzählungen und das einfache Landleben, wie es vielleicht unsere Vorfahren ca. zwei Generationen vor uns in unseren Heimatländern geführt hatten, kam uns unser Aufenthalt fast schon vor wie eine Zeitreise zurück ins letzte Jahrhundert, als das Leben noch langsamer und Telefone noch nicht schlau waren. Und als in Teilen Europas noch Krieg herrschte. Mit diesen Eindrücken zogen wir weiter nach Bosnien und Herzegowina (und Republika Srpska), ein Land, das aufgrund seiner gemischten Bevölkerung – bestehend aus Serben, Kroaten und Bosniern – noch viel mehr unter dem Krieg gelitten hatte.

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